Die European Water Association (EWA) hat Prof. Jules van Lier van der TU Delft mit der renommierten William Dunbar Medal ausgezeichnet. Im Interview erklärt der Experte, warum anaerobe Technologien die Abwasserwirtschaft grundlegend verändern können.
Professor van Lier, zu Ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten gehört die anaerobe Abwasserbehandlung. Was macht die Technologie aus Ihrer Sicht so attraktiv?
Prof. Jules van Lier: Anaerobe Hochlast-Behandlungsverfahren werden mittlerweile weltweit in Tausenden von großtechnischen Reaktoren für eine breite Palette von Abwässern eingesetzt. Die Systeme können die organische Fracht effizient in energiereiches Biomethan umwandeln, das dann zur Strom- und Wärmegewinnung zur Verfügung steht. Die Behandlungssysteme sind zehnmal kleiner als herkömmliche Belebtschlammverfahren und verbrauchen keine fossilen Brennstoffe.
Wie lässt sich der Einsatz der anaeroben Abwasserbehandlung weiter ausweiten?
Künftig werden fortschrittliche anaerobe Systeme auch schwierige chemische Abwässer und/oder hochkonzentrierte Restströme aus Prozesswasserkreisläufen behandeln können. Bei kommunalen Kläranlagen dient die anaerobe Behandlung üblicherweise zur Stabilisierung und Faulung von Überschussschlämmen. Hier haben unsere jüngst entwickelten, gestuften Faulungssysteme gezeigt, dass sich mit ihnen die Verweilzeit im Vergleich zu herkömmlichen, vollständig durchmischten Faulbehältern um den Faktor drei reduzieren lässt. Eine andere „anaerobe Chance“ liegt in der Behandlung von separat gesammeltem Schwarzwasser, möglicherweise in Kombination mit organischen Küchenabfällen.
Der Niederländer ist Professor für Abwasserbehandlung an der TU Delft und einer der führenden Köpfe der anaeroben Umwelttechnik weltweit. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Entwicklung ressourceneffizienter Behandlungsverfahren, insbesondere für Industrieabwässer, kommunale Schlämme sowie Systeme zur Wasserwiederverwendung. Van Lier studierte Mikrobiologie und Umwelttechnologie, promovierte zur thermophilen anaeroben Behandlung und ist seit über 30 Jahren international aktiv. Er lehrt zudem am IHE Delft Institute for Water Education und war Vorsitzender der Arbeitsgruppe Anaerobe Vergärung bei der International Water Association (IWA).
In seiner Laudatio lobte Collin Davis, Executive Director Capital Goods Shows bei der Messe München, Prof. van Lier als „einen der weltweit angesehensten Forscher im Bereich Umweltbiotechnologie und Abwasserbehandlung. Seine Forschungsarbeiten zeigen, wie wir Abwasser in erneuerbare Energie umwandeln, die Schlammproduktion reduzieren und die Betriebskosten minimieren können – und gleichzeitig neue Möglichkeiten für die Wiederverwendung und Rückgewinnung eröffnen, insbesondere in schnell wachsenden und wasserarmen Regionen.“
Das zurückgewonnene Wasser kann für die Stadtbegrünung, den Gartenbau und die Landwirtschaft verwendet werden.
Aufbereitete Abwässer aus Kläranlagen werden zunehmend zur Bewässerung eingesetzt. Welche Chancen und Hürden sehen Sie hier?
Pioniere und derzeitige Vorreiter bei der anaeroben Behandlung kommunaler Abwässer sind Brasilien, Mexiko und Indien – Länder, die zunehmend mit Problemen aufgrund knapper Wasserressourcen zu kämpfen haben. Einige kleinere Anwendungen gibt es auch in Nordafrika und im Mittelmeerraum. Im Sommer steigt dort durch die Touristenströme die Bevölkerung – und damit der Wasserverbrauch – drastisch an. Gleichzeitig sind die sommerlichen Temperaturen ideal für anaerobe Umwandlungsprozesse. Das zurückgewonnene Wasser kann dann für die Stadtbegrünung, den Gartenbau und die Landwirtschaft verwendet werden. Natürlich ist der anaerobe Reaktor in einem solchen System nur ein Behandlungsschritt. Die Abwässer können mit aeroben Techniken wie Tauchfiltern nachbehandelt werden, während sich pathogene Organismen durch Ultrafitration reduzieren lassen. Wichtig sind hierbei qualifizierte Bediener: Für die Ausweitung und den Erfolg dieser Lösungen ist folglich der Wissenstransfer entscheidend.
Sie beschäftigen sich zudem mit der Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Abwasserwirtschaft. Woran forschen Sie hier aktuell?
Mit der Entwicklung und zunehmenden Anwendung verbesserter Sensortechnologie wächst die Menge der Online-Daten zur Wasserqualität rapide. Diese Informationen können für KI-Modelle genutzt werden, um den Betrieb und die Steuerung abwassertechnischer Anlagen und Prozesse zu verbessern. Beispielsweise untersuchen wir Möglichkeiten, mit Hilfe von KI die Lachgas-Emissionen aus konventionellen Belebtschlammsystemen zu verringern. Unsere ersten Ergebnisse sind vielversprechend und öffnen die Tür für weitere KI-Anwendungen, zum Beispiel für die Behandlung komplexer Abwässer in anaeroben Hochleistungsreaktoren.
Die William Dunbar Medal ist eine der wichtigsten wissenschaftlichen Auszeichnungen der Wasserwirtschaft. Sie wird alle zwei Jahre von der European Water Association (EWA) verliehen – gestiftet von der IFAT Munich. Ausgezeichnet werden Persönlichkeiten mit herausragenden Beiträgen zur angewandten Abwasser- und Abfalltechnik. Namensgeber ist der deutsch-amerikanische Hygieniker William P. Dunbar (1863–1922), ein Pionier der modernen Abwasserbehandlung.
Die Rückgewinnung von Energie und Ressourcen wird eine Leitplanke für jede neue Behandlungstechnologie sein.
Welche entscheidenden Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten zehn Jahren im Bereich der Wasser- und Abwasserbewirtschaftung?